Neulich hatte ich mich mit ein paar Leuten über das Thema Zwangsehe unterhalten und fand es interessant, welch unterschiedlichen Meinungen vertreten wurden.
Ich bin natürlich kein Befürworter von so etwas, alles, was die Freiheit eines Einzelnen so massiv einschränkt, ist in meinen Augen etwas, das abgeschafft werden sollte. Was natürlich reines Wunschdenken ist. Dennoch bin ich auch etwas zwiegespalten, denn ist es nicht furchtbar arrogant von den westlichen Kulturen zu sagen: Unser Weg ist der einzig richtig und weil wir wissen, was richtig ist, geben wir Euch das vor und Ihr müsst Euch daran halten?
Einer aus unserer Gruppe hat so argumentiert, dass mit einer Zwangsehe Paragraph 1 der Menschenwürde verletzt wird (Die Würde des Menschen ist unantastbar) und das Zwangsehen deshalb unter Strafe stehen und juritisch geahndet werden. Ich bin mir nicht sicher, ob eine solche Argumentation Hand und Fuß hat.
ZitatGepostet von Anessa Einer aus unserer Gruppe hat so argumentiert, dass mit einer Zwangsehe Paragraph 1 der Menschenwürde verletzt wird (Die Würde des Menschen ist unantastbar) und das Zwangsehen deshalb unter Strafe stehen und juritisch geahndet werden. Ich bin mir nicht sicher, ob eine solche Argumentation Hand und Fuß hat.
Wenn du meinst, dass diese Argumentation nicht zutrifft - was spricht denn aus deiner Sicht gegen dieses Argument?
Würdest du dich nicht in deiner Würde verletzt fühlen, wenn deine Eltern über deinen Kopf hinweg ein Geschäft über dich abschließen und dich quasi wie ein Stück Ware behandeln würden, ohne dich nach deiner Meinung zu fragen, und wenn du dann irgendwann - ebenfalls wie eine Ware - bei irgendeinem dir möglicherweise völlig unbekannten und unsympathischen Mann abgeliefert würdest, mit dem du jetzt immer ins Bett gehen musst?
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Dá fhada an oíche tagann an camhaoir - However long the night, the dawn will come
Vor allem, wenn schon Kinder kurz nach der Geburt "versprochen" werden?
Teilweise wachsen die Kinder hier in Deutschland auf und heiraten dann irgendeinen Bauern aus dem Osten Kurdistans (entweder müssen die dort hin oder der Typ kommt her).
Die Zeit der Familienpatriarchen ist in großen Teilen des Abendlandes zum Glück vorbei. Ein Patriarch (meinetwegen auch mit Absprache der Mutter), der einfach so anderer Leute Leben verteilt und verplant (Das der eigenen Kinder), ist einfach nur vorsintflutlich und primitiv.
Der Unterschied zwischen "Zwangsehe" und "Sklaverei" (vor allem, wenn man bedenkt, dass da oft auch hohe Heiratsprämien als Mitgiften gezahlt werden!) ist nur marginal.
Die Möglichkeit der eigenen Selbstbestimmung mit "Würde" zu beschreiben/in diesem Begriff einzuschließen ist gar kein so schlechter Ansatz.
Zu der Kultur-Frage: Die Gefahr, dass man Sitten und Bräuche anderer Kulturen automatisch abwertet, weil man sie natürlich (können wir wohl gar nicht anders) aus westlicher Sichtweise verstehen, ist immer da. Kulturen hierarchisch zu ordnen, macht sicherlich wenig Sinn. Aber jede Sitte und jeden Brauch zu respektieren, nur weil er in einer "anderen Kultur" verankert ist, "die wir nicht verstehen", ist eine doch zu einfache Lösung. Einer meiner Dozenten hat mal vorgeschlagen, in solchen Fällen zwei Gedankenwege zu verfolgen:
1) Wie war das früher bei uns (in unserer "Kultur")? Antwort: In Punkto Zwangsehe gar nicht soviel anders. Eine Adelsheirat war lange Zeit kaum jemals etwas anderes, und auch bei uns wurden über viele Jahrhunderte hinweg Töchter und auch Söhne zwangsverheiratet, ohne Schutz oder Möglichkeit der Scheidung. Daher ist das nicht nur Teil einer "anderen Kultur", sondern auch Teil unserer, nur eben jetzt nicht mehr, weil wir inzwischen Werte wie Menschenwürde und Menschenrechte höher schätzen und manche alten Sitten glücklicherweise begraben haben. Was Teil einer "Kultur" ist, muss ja nicht zwangsläufig "gut und richtig" sein. Und eine "Kultur" ist auch nichts festes, unveränderliches, sondern ein dynamisches Etwas, das immer in Veränderung ist, sich wandelt und sich mit anderen Sitten und Bräuchen mischt. An etwas, das für Töchter, Frauen und Mütter die Hölle sein kann, nur deshalb festzuhalten, weil es "Tradition" und "Teil der Kultur" ist, ist für mich kein Argument. Ob es eine "Kultur" überhaupt gibt und was dazu gehört, ist sowieso fraglich, aber auf keinen Fall ist "Kultur" etwas, das unverändert so fortbestehen muss, wie es vor achthundert Jahren war.
2) Wenn man es ohne jeden Kulturgedanken rein moralisch betrachtet, wie zeigt sich der Brauch dann? Antwort: Sobald man anfängt, wirklich über die Sache nachzudenken, kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass dieser Brauch etwas archaisches ist und in eine patriarchalische Gesellschaft gehört. Dass er einer Frau jegliche Chance auf ein eigenbestimmtes Leben gibt, sie in ihrer Freiheit einschränkt, ihre Würde verletzt und möglicherweise ihr Leben und ihre Gesundheit gefährdet. Natürlich kann man jetzt sagen, dass die Argumente "verletzt die Würde und die Rechte eines Menschen" auch wieder westlich sind, ebenso wie das Argument mit der "Vernunft". In einer anderen Kultur wird vielleicht der Wert "Gehorsam" höher geschätzt, ebenso wie früher in Europa. Aber das heißt ja nicht zwangsweise, dass "Gehorsam" ein gültiges und gutes Argument für Zwangsehen ist, in einer heutigen Gesellschaft? Es gibt wohl keinen Maßstab, der momentan überall auf der Welt gültig ist, aber meiner Meinung nach sind die Menschenrechte sind meiner Meinung nach ein brauchbarer Maßstab, auf den man mit gründlicher Überlegung immer wieder kommen müsste. Man kann jetzt sagen, "westlicher, voreingenommener" Standpunkt, aber trotzdem sind die Menschenrechte für mich Rechte, auf die man immer wieder überall kommen müsste, wenn man sich nicht zu fest an die Traditionen klammert, weil "altes ja gut sein muss". Was es definitiv oft nicht ist.
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You can not cage the wind, nor can you quieten him.
Man koennte noch eine dritte Dimension beifuegen (und die fuehrt die von Anessa genannte Argumentation von wegen 'westliche Werte etc.' dann meist ab adsurdum):
Wie sehen es denn die Betroffenen? Aktzeptieren sie es oder versuchen sie dagegen anzukaempfen?
Der so argumentiert hat, war doch sicher ein Mann oder? Kenne den Standpunkt auch, aber ausser (aeltere) Hardcore - Muetter mit teils uebersichtlichen Bildungsstand habe ich bisher von wenigen Frauen gelesen / gehoert, das sie das befuerworten (aber die Gegenfraktion ist auch sicher lauter / sichtbarer).
Aeusserst brutal ist es natuerlich fuer die im Westen aufgewachsenen Frauen und da zieht das Argument gar nicht, weil die gar kein 100 % einzuordnendes Wertesystem mehr haben.
Wunschgrabsteininschrift:
Hier liegen meine Gebeine und ich wuenschte es waeren Deine!
ZitatGepostet von Yavanna Wenn du meinst, dass diese Argumentation nicht zutrifft - was spricht denn aus deiner Sicht gegen dieses Argument?
Würdest du dich nicht in deiner Würde verletzt fühlen, wenn deine Eltern über deinen Kopf hinweg ein Geschäft über dich abschließen und dich quasi wie ein Stück Ware behandeln würden, ohne dich nach deiner Meinung zu fragen, und wenn du dann irgendwann - ebenfalls wie eine Ware - bei irgendeinem dir möglicherweise völlig unbekannten und unsympathischen Mann abgeliefert würdest, mit dem du jetzt immer ins Bett gehen musst?[/b]
Es spricht eigentlich nichts gegen die Argumentation, ich habe nur versucht, die Sache von einem juristischen Standpunkt aus zu betrachten und mich gefragt, ob ein Anwalt vor Gericht mit diesem speziellen Paragraphen argumentieren würde. Einleuchtender wäre mir z.B. Paragraph 16 der Menschenrechte: "Eine Ehe darf nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden."
Wenn man dem Artikel auf Wikipedia zum Thema Zwangsheirat Glauben schenken darf, dann steht diese auch erst seit diesem Jahr unter Strafe (oder ich habe etwas falsch verstanden, was durchaus sein kann). Ganz so fortschrittlich scheint Deutschland bei Thema nicht gewesen zu sen, wenn es so lange gedauert hat, ein entsprechendes Gesetz zu erlassen, was mich ein wenig schockiert hat. Wörtlich heißt es:
"2006 betrieb der baden-württembergischen Justizministers und Integrationsbeauftragten Ulrich Goll (FDP) eine Bundesrats-Gesetzesinitiative. Sie wollte Zwangsverheiratung mit Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren belegen und alle Formen der Zwangsheirat unter Strafe stellen. - Da die Beratungen bis zur Bundestagswahl 2009 nicht abgeschlossen waren, wurden sie 2010 erneut auf den Weg gebracht:
Am 12. Februar 2010 beschloss der Bundesrat, einen Gesetzentwurf von Baden-Württemberg und Hessen beim Bundestag einzubringen, der für "Zwangsverheiratung" einen eigenständigen Straftatbestand im Strafgesetzbuch vorsieht.
Dieser soll sich an die Tatbestände der Nötigung, des Menschenhandels und der Verschleppung anlehnen."
Ich hätte eben ähnlich argumentiert, also eher mit Nötigung oder Verschleppung, das meinte ich damit. Dass die Würde des Menschen damit gleichzeitig mit verletzt wird, will ich gar nicht bestreiten.
ZitatGepostet von Uinen Ob es eine "Kultur" überhaupt gibt und was dazu gehört, ist sowieso fraglich, aber auf keinen Fall ist "Kultur" etwas, das unverändert so fortbestehen muss, wie es vor achthundert Jahren war.
Natürlich wäre es wünschenswert, dass sich Kulturen "modernisieren". Dann würde Japan vielleich auch endlich mal mit dem Walfang aufhören - etwas, was mich auch jedes Mal wieder auf die Palme bringt, und trotzdem wird ganz offen damit argumentiert, dass Japan (und auch andere Länder) ein Recht auf Walfang hätten, eben weil er Tradition hat.
Im Übrigen finde ich, dass auch Männer Opfer von Zwangsheirat werden, nicht nur die Frauen, auch, wenn es diese härter trifft. Ich möchte außerdem noch mal betonen, dass ich kein Befürworter von Zwangsehen bin, im Gegenteil. Mich hatte es nur interessiert, die Sache aus kultureller Hinsicht zu betrachten und da stößt man zwangsläufig auf das Argument "Der Westen weiß es eben besser". Es war außerdem eine Frau, die dieses Argument bei "meiner" Diskussionsrunde aufbrachte. Sie arbeitet in der Filmbranche, ist in Frankreich aufgewachsen, lebt aber nun schon lange in Deutschland. Ich stimme ihr in so fern zu, dass ich finde, dass die westliche Kultur sich oft für etwas besseres hält.
Naja, meine Frau is ja Tuerkin und kennt solche Faelle aus ihrem Umfeld von frueher und ALLE betroffenen Freundinnen fanden es Scheisse. Einige sind abgehauen und es geht / ging meistens nur durch einen vollkommenen Bruch mit der Familie bis hin zum Identitaetswechsel.
Sozialaemter waren einige Zeit sehr beschaeftigt mit dem Thema.
Von daher finde ich die Dimesion die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen schon gewichtig.
Wunschgrabsteininschrift:
Hier liegen meine Gebeine und ich wuenschte es waeren Deine!